Teil
2
Die
Suche
Schon früh am Morgen
erwachte Lotte, weil sich ihr Körper noch immer so kribbelig
anfühlte und sie ihn auf keinen Fall noch viel länger im Bett ruhig
halten konnte. Weihnachten, das Fest der Liebe, aber auch der schönen
Geschenke, konnte für ein fünfjähriges Mädchen schon sehr
aufregend sein. Für heute hatte sich Lotte viel vorgenommen, denn
ihre neue Puppe Josefine sollte ihr eine richtige Freundin sein, mit
der sie viel Zeit verbringen wollte. Und deshalb würde Lotte sie neu
frisieren, ihr ein anderes Kleidchen überziehen, um danach lange mit
ihr zu spielen. Vielleicht hatte Ylvie Lust, gemeinsam mit Lotte und
Finchen zu spielen? „Ich werde sie gleich danach fragen“,
beschloss das Mädchen, wollte Josefine schnappen, doch sie konnte
die neue Puppe nicht entdecken. Lotte schlug die schwere Bettdecke
nach oben und tastete sich mit ihren kleinen Händen unter der Decke
Zentimeter für Zentimeter nach vorn, aber unter der Bettdecke fand
sie Josefine nicht. „Brummeli, hast du sie gesehen? Wir haben doch
die Nacht alle zusammen hier im Bett gelegen.“ Brummeli antwortete
nicht. Lotte legte sich auf ihren Bauch direkt vor das Bett und
spähte darunter. Sie schob den Weidenkorb mit den bunten Gummibällen
zur Seite, um auch den hinteren Teil des Bodens zu begutachten, aber
hier fand sie Josefine nicht. „Brummeli, komm mit, wir müssen
Josefine suchen. Sie kann doch nicht weg sein.“ Barfuß, nur mit
einem Nachthemd bekleidet und den Bären unter dem rechten Oberarm
geklemmt schritt Lotte zunächst ihr Zimmer ab. Sie stellte sich auf
die Zehen, um durch die kleinen Luken des von Papa selbst gebauten
Holzkleiderschrankes zu spähen, konnte jedoch nichts erkennen. Sie
öffnete die ein bisschen quitschenden Türen und blickte etwas
ratlos in das Innere. Dann wühlte sie die zahlreichen Söckchen und
Strumpfhosen, die am Schrankboden sauber und ordentlich sortiert
lagen, durcheinander. Josefine fand sie nicht.
Lotte
rollte sich ihren gemütlichen Schreibtischstuhl vor den Schrank,
kletterte mit Brummeli darauf und suchte mit ihren Augen den Schrank,
der ziemlich staubig aussah, ab, doch statt ihrer Puppe entdeckte sie
nur den rosafarbigen Ball, den sie schon sehr lange vermisste. Mit
dem Zeigefinger der linken Hand konnte sie ihn zu sich rollen und auf
den Boden fallen lassen. Lotte hockte sich neben den Ball
und
überlegte. „Gestern Abend noch lag Finchen in meinem Bett. Danach
habe ich das Bett nicht mehr verlassen und Josefine vermutlich auch
nicht. Es muss sie jemand in der Zeit, als ich geschlafen habe,
geholt haben.“ Bei diesem Gedanken erschrak Lotte, weil sie es
nicht mochte, nachts gestört zu werden. Leise auf Zehenspitzen
schlich sie zu dem Zimmer ihrer älteren Schwester Ylvie, von der sie
wusste, dass ihr Josefine gut gefallen hatte, denn nicht nur einmal
hatte sie Lottes Puppe aufmerksam gemustert. Es schien Lotte also
möglich, dass Ylvie sich Josefine sozusagen ausgeliehen hatte, um
ihr vielleicht ihre kleinen und großen Sorgen mitzuteilen. Die
Holzbodendielen knarksten unter Lottes Schritten, auch die Tür von
Ylives Zimmer konnte Lotte nicht lautlos öffnen, obwohl sie sich
alle Mühe gab. Doch Ylvie schlief um diese Uhrzeit noch tief und
fest, sodass Lotte in aller Ruhe auf die Suche nach ihrer neuen
Freundin gehen konnte, ohne bemerkt zu werden. Gründlich durchsuchte
Lotte jede Ecke des Zimmers ihrer Schwester. Sie sah zuerst in Ylvies
Bett, danach darunter, sie öffnete den Kleiderschrank, sah auf dem
Schreibtisch nach, sie durchwühlte sogar Ylvies Schulranzen, aber
Josefine konnte sie nicht finden.
Leise schlich sie wieder
zur Tür, als Ylvie sich umdrehte und sie mit großen Augen ansah.
„Was
um alles in der Welt tust du denn da?“
Lotte erschrak und bekam
einen roten Kopf. Den bekam sie immer, wenn sie etwas tat, von dem
sie wusste, dass es nicht so richtig erlaubt war.
„Ich,
ich“, stotterte Lotte, doch ihr wollte nicht einfallen, was sie
Ylvie sagen sollte. Und auf einmal, Lotte war selbst überrascht,
fing das kleine Mädchen an zu weinen, zuerst waren es nur ein paar
kleine Tränchen, die auf ihre Wangen tropften, doch nach kurzer Zeit
schon begann sie laut zu weinen. Immer wieder musste sie die Tränen
wegwischen, die Nase tropfte und Lotte stand gebeugt vor ihrer
Schwester. Ylvie sprang aus dem warmen Bett, umarmte Lotte und führte
sie behutsam unter ihre kuschelige Decke. „Du zitterst ja und hast
eiskalte Füße. Wie lange bist du denn schon unterwegs? Und was ist
überhaupt los?“ Ylvie, die Lotte ein Taschentuch reichte, sah ihre
jüngere Schwester aufmerksam an, doch es dauerte noch eine Weile,
bis Lotte wirklich sprechen und nicht nur schluchzen konnte. „Finchen
ist verschwunden.“ Als Lotte diesen Satz ausgesprochen hatte, wurde
sie noch einmal gerüttelt von einem lauten Weinkrampf. Es war fast
so, als hätte sie erst jetzt, da sie die Worte über ihre Lippen
gelassen hatte, richtig verstanden, dass ihre neue, schon so lieb
gewordene Freundin wie vom Erdboden verschwunden war. Ylvie nahm
Lotte in den Arm und drückte sie fest an sich. „Und Brummeli
konnte deine Puppe auch nicht finden?“, wollte die große Schwester
wissen und Lotte schüttelte noch immer weinend den Kopf. „Was
haltet ihr zwei denn davon, wenn ich mit euch nach Josefine suche.
Sie kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben, oder?“ Lotte sah
ihre Schwester dankbar an und schlang ihre kleinen Arme um deren
Hals, drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und nickte.
„Aber zuerst, Lottchen, ziehen wir uns etwas an. Du hast ja noch
immer eiskalte Füße.“