Teil
3
Eine
schöne Bescherung
Nachdem sich Lotte in dem
kuscheligen, warmen Bett ihrer großen Schwester aufgewärmt hatte,
huschte sie schnell in ihr Zimmer, um sich eine Strumpfhose und eine
Jacke überzuziehen. Doch Ylvie, die die Kleine beobachtet hatte,
reichte ihr noch ein paar dicke Socken und ihre warmen Hausschuhe.
„Wir wissen doch gar nicht, wie lange unsere Suche dauern wird.
Willst du wieder so frieren wie vorhin?“ Lotte schüttelte den
Kopf, nein, natürlich nicht. Sie wollte nicht wieder frieren, aber
lange suchen wollte sie auch nicht. Sie wollte ihre neue Puppe
Josefine jetzt endlich in den Armen halten. So beeilte sich Lotte mit
dem Anziehen, aber durch ihre Unruhe wollte es ihr nicht gelingen,
die Strumpfhose über ihre Beine zu ziehen. Immer wieder hatte sie
ein großes Knäuel Strumpfhose in der Hand, an den Beinen aber
fehlte etwas. Wieder spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen
schossen. Ylvie, die sich mittlerweile neben die kleine Schwester
gestellt hatte, griff die Hosenbeine der Strumpfhose und zog sie
langsam, aber sicher über Lottes Füße und an ihren Beinen hoch.
Als sie den Hosenbund an Lottes Bauch gefasst hatte, hob sie die
Kleine ein Stück vom Boden hoch, sodass Lotte wieder anfing zu
lachen. „So, kleine Lotte, jetzt nur noch deine Jacke, die Strümpfe
und die Schuhe und schon kann's losgehen. Denk aber dran, dass wir
ganz leise sein müssen. Die anderen schlafen ja noch.“ Lotte nahm
den Zeigefinger ihrer rechten Hand und legte ihn über ihren
geschlossenen Mund, während sie nickte.
Die Schwestern starteten
ihre Suche in Lottes Zimmer, denn Ylvie wollte noch einmal alle
Stellen genauer untersuchen. Vielleicht hatte Lotte etwas übersehen?
Aber so genau die beiden auch schauten und alles auf den Kopf
stellten, Josefine war verschwunden. „Lass uns im Wohnzimmer
nachsehen. Vielleicht wollte sie ja zurück unter den
Weihnachtsbaum“, überlegte Ylvie, doch auch in dem noch immer
festlich wirkenden Wohnraum, in dessen Mitte der prächtige, große
Tannenbaum thronte, konnten sie Josefine nicht finden. „Ich habe da
eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir Boss in unsere Suche mit
einbeziehen. Er kann wunderbar riechen, du müsstest ihm nur etwas
geben, das Josefine gehört.“ Begeistert rannte Lotte die Treppe
nach oben in ihr Zimmer und kam mit dem Kleid zurück, das sie für
Finchen bekommen hatte, damit sie die Puppe auch mal umziehen konnte.
„Dann wollen wir doch mal unseren Detektiv bemühen“, meinte
Ylvie und schritt auf das Hundekörbchen des Collierüden zu. Boss
schlief, hob aber seinen Kopf, als Ylvie und Lotte so dicht vor ihm
standen. „Vielleicht gibts ja was zu futtern?“, mochte er sich
denken, denn schwerfällig erhob er sich, um hinter Ylvie
herzutrotten. Ylvie hockte sich neben den trägen Hundemann und
streichelte ihn. „Sieh mal, Boss, das ist ein Kleid von Josefine,
unserer neuen Bewohnerin und Lottes Freundin. Meinst du, du kannst
uns bei der Suche nach ihr behilflich sein?“, und während sie das
sprach, hielt sie das Kleidchen direkt unter die feuchte Nase des
Hundes. Boss schnupperte nicht nur an dem Puppenkleid, er zog auch
seine Zunge darüber, was Lotte gar nicht gefiel. „Lass das, Boss,
ich will Fine kein nasses Kleid anziehen.“ „Du weißt doch, was
er für eine Vorliebe für Kuschelsachen hat. Erinnerst du dich noch
daran, wie oft er meinen Hausschuh weggetragen hat?“ Lotte nickte.
Ja, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Wie lange hatten alle
gemeinsam das Haus auf den Kopf gestellt, um Ylvies Hausschuhe wieder
zu finden. „Warte mal“, platzte es aus Ylvie heraus, „ich habe
da eine Idee.“ Sie stürmte zu dem Hundekörbchen und entdeckte ein
rotes Haar auf dem Kissen. „Lotte, sieh! Hier ist ein rotes Haar.
Das kommt mir doch sehr bekannt vor.“ Ylvie zog mit ihrem
Zeigefinger und dem Daumen den roten Faden aus dem Körbchen, hielt
ihn nach oben und zeigte ihn ihrer Schwester. „Das ist ein Haar von
Josefine! Ich erkenne es ganz genau. Boss, wo hast du Finchen
hingeschleppt?“ Lotte baute sich vor dem Hund auf, stemmte ihre
Arme in beide Hüften und sah ihn herausfordernd an. In ihren blauen
Augen blitzte es, denn Lotte war ganz schön wütend. Wie konnte Boss
nur ihr schönstes Weihnachtsgeschenk stehlen und dann auch noch
wegtragen, verstecken und ihm ein Haar herausreißen?
Der Hund sah Lotte
fragend an und gähnte. „Na toll. Nicht mal antworten kannst du.
Das finde ich wirklich ganz schön blöd von dir, weißt du, ganz
schön blöd.“ Während Lotte so auf den Collie einsprach, kniete
Ylvie am Hundekörbchen und hob das Kissen nach oben. „Das ist ja
nicht zu fassen“, rief sie. „Sieh mal, wen wir hier haben!“
Ylvie hielt Josefine nach oben. Josefine! Sie sah gar nicht mehr aus
wie die Puppe, die Lotte gestern vorsichtig unterm Weihnachtsbaum
hervorgezogen, der sie das Haus gezeigt hatte und mit der sie ins
Bett gekrochen war. Ihre schönen langen roten Haare waren
herausgerissen, nur noch ein paar Fransen hingen am Kopf herunter,
das knallbunte Kleid war kaputt und insgesamt sah sie ziemlich
ramponiert aus. Lotte erschrak, griff nach Josefine, drückte sie
liebevoll an sich und fing zu weinen an. „Meine liebe kleine Fine.
Du siehst ja ganz schmutzig und krank aus. Du armes Püppchen.
Während ich geschlafen habe, hat Boss dich so zugerichtet. Aber mach
dir keine Sorgen, ich werde dich wieder gesund machen.“ Sie wusste
zwar überhaupt nicht, was sie tun konnte, um aus dieser kaputten
Puppe die zu machen, die sie noch gestern gewesen war, aber es
tröstete sie, die Worte zu sprechen. Ylvie schimpfte mit Boss. „Was
hast du da nur angerichtet? Das ist doch kein Hausschuh, das ist
Lottes Freundin. Die kannst du nich einfach wegschleppen und
zerfetzen. Das geht wirklich nicht!“ Durch den Krach im Flur wurden
die Eltern wach und erschienen mit ihren Bademänteln auf der
Treppe. „Was ist denn so früh am Morgen hier los?“, wollte Mama
wissen, die noch sehr verschlafen und zerzaust wirkte. Als sie sah,
dass ihre jüngste Tochter weinte, rannte sie die Treppenstufen
hinunter und sah – Josefine. „Nein, das ist ja unerhört. Wer war
das?“ Ylvie übernahm das Reden, denn Lotte schluchzte schon
wieder, sodass ihr keine Worte mehr über die Lippen wollten. „Zeig
mal das Püppchen“, forderte Mama die Kleine auf und mit verweintem
Gesicht und einer tropfenden Nase, mittlerweile doch wieder frierend
reichte Lotte ihre beste Freundin der Mutter. „Wir bestellen dir
eine andere Puppe beim Christkind, ja?“, meinte Mama und
streichelte Lotte liebevoll über das Haar. Aber da fing Lotte noch
lauter an zu weinen. Mama und Ylvie blickten das kleine Mädchen, das
da traurig und verzweifelt im Flur stand, verständnislos und fragend
an. „Das Christkind wird dich verstehen und dir sicher ganz schnell
schon eine neue Josefine schicken. Sie wird bestimmt auch genau so
wie diese hier aussehen. Wir müssen nur ein paar Tage abwarten,
damit das Christkind das Püppchen besorgen kann.“ Es schien so,
als hätte die Mutter etwas ganz Furchtbares gesagt, denn das Weinen
von Lotte wurde nun zu einem lauten Jammern. „Lotte, sag doch
etwas“, bat Ylvie, denn sie waren ratlos. Warum nur ließ sich
Lotte nicht trösten?
Mama hob das weinende
Kind auf den Arm, trug es ins gemütliche Wohnzimmer und setzte sich
mit ihm auf die große, weiche Sofalandschaft, auf der alle
Familienmitglieder sitzen konnten. Ylvie und Boss folgten.
„Jetzt
beruhige dich erst einmal und dann sagst du mir, was in deinem
kleinen Kopf passiert. Ich kann es nämlich gar nicht verstehen.“
Nach einer Weile, die Tränen liefen zwar noch immer über Lottes
Wangen, konnte das Mädchen wieder sprechen. „Mama, ich will keine
andere Puppe. Das hier ist meine Josefine. Diese und keine andere. Es
ist egal, wie sie im Moment aussieht. Ich habe sie so lieb, wie sie
ist. Ich möchte ihr nur ein bisschen helfen. Vielleicht kann ich sie
wieder parieren.“ Und damit meinte Lotte reparieren, doch dieses
Wort konnte sie nicht so richtig aussprechen. Mama lächelte. „Wie
klug du doch bist, kleine Lotte und wie recht du hast. Das hier ist
deine Puppe, es stimmt. Wir sollten sie nicht einfach gegen eine neue
eintauschen. Das wäre gemein von uns. Fine kann ja nichts dafür.“
In diesem Moment betrat Papa das Wohnzimmer und sah sich Josefine
ganz genau an. Mama, Lotte und Ylvie blickten ihn fragend mit großen
Augen an. Er nickte. „Ja, ja, ich glaube, ich kann Josefine wieder
fit kriegen. Gib sie mir mal her.“ Schweren Herzens löste sich
Lotte von ihrer verletzten Freundin und reichte sie ihrem Vater, der
mit Fine das Wohnzimmer verließ. „Was haltet ihr denn davon, wenn
wir den Frühstückstisch vorbereiten, während Papa als Puppendoktor
arbeitet?“ Die Mädchen, die ja nun schon eine lange Zeit unterwegs
gewesen waren und so allerhand Aufregung erlebt hatten, spürten auf
einmal, dass sie großen Hunger hatten. Beim Decken des Tisches in
der warmen Küche ging es Lotte schon viel besser und als sie den
ersten Schluck ihres süßes Kakaos trank, spürte sie eine
Behaglichkeit, obwohl Josefine so ramponiert war. Das Wichtigste für
Lotte war, dass sie ihre Freundin wieder hatte. Es dauerte nicht
lang, da brachte Papa die Patientin in die Küche, über die alle
laut lachen mussten. Er hatte ihr ein paar gelbe Haare zwischen die
roten Fransen geklebt, sie gesäubert, die zerrissenen Gliedmaßen
genäht, das kaputte Kleidchen durch das neue blaue ersetzt und ihr
auf die genähte Stelle im Gesicht ein buntes Pflaster geklebt. Lotte
öffnete ihre Arme und nahm das Püppchen zu sich, streichelte es und
war mehr als glücklich. „Ich finde, dass Fine noch viel schöner
aussieht als gestern. Aber ich möchte noch etwas tun.“ Die Familie
sah Lotte fragend an. „Ich möchte Boss auch etwas zum Kuscheln
schenken, damit er sich nicht immer unsere Hausschuhe oder Puppen
holen muss.“ Mama klatschte in die Hände. „Was für eine schöne
Idee, Lotte. Gleich nach den Weihnachtsfeiertagen gehen wir einen
kleinen Kuschelhund für Boss kaufen und Josefine und du, ihr dürft
ihn aussuchen.“
Durch den Duft und den
Lärm, der sich von der Küche aus im ganzen Haus ausgebreitet hatte,
wurde nun auch der Langschläfer Emil geweckt, der mit Schlafanzug
und verzottelten Haaren in die Küche schlurfte. Alle sahen ihn
gespannt an und Lotte hielt Fine hoch. Emils Augen, die gerade noch
klein und müde ausgesehen hatten, weiteten sich und sein Mund
öffnete sich. „Oh, wie sieht denn Josefine aus. Ist sie in den
Mixer gefallen?“ Alle lachten und dann erzählte Lotte ihrem großen
Bruder die ganze Geschichte, von Anfang an.
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