Sonntag, 5. Januar 2014

Geschenke

Teil 1
Am Weihnachtsabend

Josefine hieß sie, die neue Puppe. Sie lag unterm Weihnachtsbaum und Lotte hatte sie gleich gesehen, als sie das festlich geschmückte Wohnzimmer an der Hand ihrer Mutter betrat.
Obwohl der hohe und weite Raum nach Zimt, Orange und Tannennadeln duftete, obwohl an den Wänden goldfarbige Lichter aus Glas hingen und obwohl leise, beruhigende Musik, wie von Engeln gesungen, ertönte, konnte man Josefine einfach nicht übersehen mit ihren langen, fransigen roten Haaren, ihrem freundlichen Lächeln und dem knallbunten Kleid, unter dem dünne, weiche Beine hervorsahen. Unruhig war Lotte vor dem Weihnachtsbaum in der Mitte des Wohnzimmers stehen geblieben. Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und dem Wunsch, endlich die Geschenke zu erhalten. Während Lotte mit Mama und Papa sowie den älteren Geschwistern Emil und Ylvie die Weihnachtslieder sang, die wie in jedem Jahr von Papa auf dem Klavier begleitet wurden, konnte Lotte ihren Blick nicht von der hübschen Puppe lassen. Es schien ihr fast, als würde Josefine ihr zuzwinkern. Noch nie zuvor hatte Lotte so eine wunderschöne Puppe gesehen oder gar besessen. Bisher hatte sie ihren kuscheligen Stoffbären Brummeli gehabt, der sich wunderbar weich an ihren Körper schmiegte, wenn sie abends unter ihre Bettdecke schlüpfte. Ihm erzählte sie ihre Sorgen, er flüsterte Worte des Trostes, wenn sie sich mit ihren älteren Geschwistern Emil und Ylvie gestritten hatte und, und das war das Wunderbarste, diese Worte konnte nur sie, Lotte, verstehen.
Doch nun bekam sie eine Puppe und das war etwas ganz Anderes als ein Bär! Mit einer Puppe konnte man auch kuscheln, sie konnte trösten, man konnte ihr die Sorgen erzählen, natürlich, aber, und das machte sie zu etwas Besonderem, sie konnte in wesentlich mehr Rollen schlüpfen als ein Kuschelbär.
Mit ihrer besten Freundin spielte Lotte im Kindergarten oft Vater, Mutter und Kind. Wie gut würde sich Josefine für dieses Spiel eignen. Ohne Probleme würde die Puppe sowohl die Rolle der Mutter als auch des Kindes übernehmen können. Wenn man ihr eine Mütze oder Kappe über ihre langen roten Haare stülpte, war sogar die Rolle des Vaters möglich.
Lotte würde die Puppe frisieren können, ihr Zöpfe binden oder die Haare flechten. Sie könnte ihr neue Kleider anziehen, was bei einem Teddy zwar möglich, aber doch auch etwas lächerlich war, denn schließlich hatte ein Teddy keine langen Haare zum Kämmen und Lotte fand, dass sie mit ihren fünf Jahren einfach zu groß war, um den Bären Brummeli ständig umzuziehen.
Nach dem Singen der Weihnachtslieder durfte das jüngste Kind mit dem Öffnen der Geschenke beginnen, das war in jedem Jahr so. Lotte war das jüngste Kind. Ihr wurde es abwechselnd kalt und heiß, weil sie nervös war. Ganz vorsichtig trat das Mädchen an den Weihnachtsbaum heran, bückte sich und zog langsam die Puppe an einem Arm unter dem Baum hervor. Sie drückte das weiche Stoffpüppchen in ihren Arm, gab ihm einen Kuss auf den roten Mund und sprach: „Josefine sollst du heißen, Josefine ist ein schöner Name, aber vielleicht werde ich dich auch öfter mal Fine nennen, weil das ein bisschen kürzer ist, weißt du.“ Die Puppe war damit gleich einverstanden, Lotte hatte es gespürt, denn es schien ihr, als würde sie Lotte schon wieder zuzwinkern.
Den ganzen Abend, als die Familie an dem großen mit einer weißen Tischdecke gedeckten Esstisch im Wohnzimmer saß und das köstliche und duftende Federvieh verzehrte, als die Familie nach dem Essen die Autorennbahn von Emil aufbaute und ausprobierte und als alle mit Ylvies Holz-Zoo spielten, hielt Lotte ihre neue Freundin fest an sich gedrückt. Sie konnte ihr Glück noch gar nicht fassen. „Siehst du Finchen, das ist mein Bruder Emil. Er hat sich eine Autorennbahn gewünscht und schau, wie er sich freut. Am liebsten spielt er mit Papa, guck, wie die beiden um die Wette fahren. Ich glaube, Papa ist heute auch noch einmal ein kleiner Junge geworden. Hast du bemerkt, wie seine Augen glänzen?“
Lotte lief mit Josefine durchs ganze Haus, um ihr das neue Heim zu zeigen. In einer Niesche in dem geräumigen Flur stand das Körbchen von Boss, dem alten Collirüden. Lotte hielt ihre Puppe mit beiden Händen weit nach vorn.„Boss, sieh mal“, das ist Josefine, meine neue Freundin.“ Der Hund trottete an Lotte heran und schnupperte mit seiner schwarzen feuchten Nase an den roten, wuscheligen Haaren der Puppe. „Sie wird ab heute bei uns wohnen, weißt du. Sei bitte ein bisschen nett zu ihr und belle nicht so laut, damit sie sich bei uns auch wohl fühlt, ja?“, forderte Lotte den Collie auf, der, als er verstanden hatte, sich zurück zu seinem Körbchen schleppte, sich hineinlegte und die Augen schloss.


Am späten Abend, als Lotte schon im Bett lag, machte sie Josefine mit Brummeli bekannt, denn ab heute mussten sie sich zu dritt den Platz im Bett teilen. Lotte legte ihren Bären auf das Kopfkissen rechts neben ihrem Kopf, Josefine nahm sie in den Arm. Dann zog sie die weiche Bettdecke über ihren Kopf, drehte sich auf die rechte Seite, sodass eine kleine Höhle entstand. Es war ein wundervolles Gefühl, sicher und geborgen zu liegen und von Brummeli und Finchen umgeben zu sein. „Stille Nacht, heilige Nacht“, sang Lotte ihren Bettgefährten vor, dann schlief sie tief und fest ein.

1 Kommentar:

  1. Das ist eine wunderschöne Geschichte liebe Birgit, es kommen Erinnerungen auf, an Weihnachten in meiner Kinderzeit, an wunderbare Momente, danke...

    Liebe Grüsse Dir

    Hans-Peter

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