Sonntag, 9. Februar 2014

Geschenke

Teil 3
Eine schöne Bescherung

Nachdem sich Lotte in dem kuscheligen, warmen Bett ihrer großen Schwester aufgewärmt hatte, huschte sie schnell in ihr Zimmer, um sich eine Strumpfhose und eine Jacke überzuziehen. Doch Ylvie, die die Kleine beobachtet hatte, reichte ihr noch ein paar dicke Socken und ihre warmen Hausschuhe. „Wir wissen doch gar nicht, wie lange unsere Suche dauern wird. Willst du wieder so frieren wie vorhin?“ Lotte schüttelte den Kopf, nein, natürlich nicht. Sie wollte nicht wieder frieren, aber lange suchen wollte sie auch nicht. Sie wollte ihre neue Puppe Josefine jetzt endlich in den Armen halten. So beeilte sich Lotte mit dem Anziehen, aber durch ihre Unruhe wollte es ihr nicht gelingen, die Strumpfhose über ihre Beine zu ziehen. Immer wieder hatte sie ein großes Knäuel Strumpfhose in der Hand, an den Beinen aber fehlte etwas. Wieder spürte sie, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Ylvie, die sich mittlerweile neben die kleine Schwester gestellt hatte, griff die Hosenbeine der Strumpfhose und zog sie langsam, aber sicher über Lottes Füße und an ihren Beinen hoch. Als sie den Hosenbund an Lottes Bauch gefasst hatte, hob sie die Kleine ein Stück vom Boden hoch, sodass Lotte wieder anfing zu lachen. „So, kleine Lotte, jetzt nur noch deine Jacke, die Strümpfe und die Schuhe und schon kann's losgehen. Denk aber dran, dass wir ganz leise sein müssen. Die anderen schlafen ja noch.“ Lotte nahm den Zeigefinger ihrer rechten Hand und legte ihn über ihren geschlossenen Mund, während sie nickte.
Die Schwestern starteten ihre Suche in Lottes Zimmer, denn Ylvie wollte noch einmal alle Stellen genauer untersuchen. Vielleicht hatte Lotte etwas übersehen? Aber so genau die beiden auch schauten und alles auf den Kopf stellten, Josefine war verschwunden. „Lass uns im Wohnzimmer nachsehen. Vielleicht wollte sie ja zurück unter den Weihnachtsbaum“, überlegte Ylvie, doch auch in dem noch immer festlich wirkenden Wohnraum, in dessen Mitte der prächtige, große Tannenbaum thronte, konnten sie Josefine nicht finden. „Ich habe da eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir Boss in unsere Suche mit einbeziehen. Er kann wunderbar riechen, du müsstest ihm nur etwas geben, das Josefine gehört.“ Begeistert rannte Lotte die Treppe nach oben in ihr Zimmer und kam mit dem Kleid zurück, das sie für Finchen bekommen hatte, damit sie die Puppe auch mal umziehen konnte. „Dann wollen wir doch mal unseren Detektiv bemühen“, meinte Ylvie und schritt auf das Hundekörbchen des Collierüden zu. Boss schlief, hob aber seinen Kopf, als Ylvie und Lotte so dicht vor ihm standen. „Vielleicht gibts ja was zu futtern?“, mochte er sich denken, denn schwerfällig erhob er sich, um hinter Ylvie herzutrotten. Ylvie hockte sich neben den trägen Hundemann und streichelte ihn. „Sieh mal, Boss, das ist ein Kleid von Josefine, unserer neuen Bewohnerin und Lottes Freundin. Meinst du, du kannst uns bei der Suche nach ihr behilflich sein?“, und während sie das sprach, hielt sie das Kleidchen direkt unter die feuchte Nase des Hundes. Boss schnupperte nicht nur an dem Puppenkleid, er zog auch seine Zunge darüber, was Lotte gar nicht gefiel. „Lass das, Boss, ich will Fine kein nasses Kleid anziehen.“ „Du weißt doch, was er für eine Vorliebe für Kuschelsachen hat. Erinnerst du dich noch daran, wie oft er meinen Hausschuh weggetragen hat?“ Lotte nickte. Ja, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Wie lange hatten alle gemeinsam das Haus auf den Kopf gestellt, um Ylvies Hausschuhe wieder zu finden. „Warte mal“, platzte es aus Ylvie heraus, „ich habe da eine Idee.“ Sie stürmte zu dem Hundekörbchen und entdeckte ein rotes Haar auf dem Kissen. „Lotte, sieh! Hier ist ein rotes Haar. Das kommt mir doch sehr bekannt vor.“ Ylvie zog mit ihrem Zeigefinger und dem Daumen den roten Faden aus dem Körbchen, hielt ihn nach oben und zeigte ihn ihrer Schwester. „Das ist ein Haar von Josefine! Ich erkenne es ganz genau. Boss, wo hast du Finchen hingeschleppt?“ Lotte baute sich vor dem Hund auf, stemmte ihre Arme in beide Hüften und sah ihn herausfordernd an. In ihren blauen Augen blitzte es, denn Lotte war ganz schön wütend. Wie konnte Boss nur ihr schönstes Weihnachtsgeschenk stehlen und dann auch noch wegtragen, verstecken und ihm ein Haar herausreißen?
Der Hund sah Lotte fragend an und gähnte. „Na toll. Nicht mal antworten kannst du. Das finde ich wirklich ganz schön blöd von dir, weißt du, ganz schön blöd.“ Während Lotte so auf den Collie einsprach, kniete Ylvie am Hundekörbchen und hob das Kissen nach oben. „Das ist ja nicht zu fassen“, rief sie. „Sieh mal, wen wir hier haben!“ Ylvie hielt Josefine nach oben. Josefine! Sie sah gar nicht mehr aus wie die Puppe, die Lotte gestern vorsichtig unterm Weihnachtsbaum hervorgezogen, der sie das Haus gezeigt hatte und mit der sie ins Bett gekrochen war. Ihre schönen langen roten Haare waren herausgerissen, nur noch ein paar Fransen hingen am Kopf herunter, das knallbunte Kleid war kaputt und insgesamt sah sie ziemlich ramponiert aus. Lotte erschrak, griff nach Josefine, drückte sie liebevoll an sich und fing zu weinen an. „Meine liebe kleine Fine. Du siehst ja ganz schmutzig und krank aus. Du armes Püppchen. Während ich geschlafen habe, hat Boss dich so zugerichtet. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich wieder gesund machen.“ Sie wusste zwar überhaupt nicht, was sie tun konnte, um aus dieser kaputten Puppe die zu machen, die sie noch gestern gewesen war, aber es tröstete sie, die Worte zu sprechen. Ylvie schimpfte mit Boss. „Was hast du da nur angerichtet? Das ist doch kein Hausschuh, das ist Lottes Freundin. Die kannst du nich einfach wegschleppen und zerfetzen. Das geht wirklich nicht!“ Durch den Krach im Flur wurden die Eltern wach und erschienen mit ihren Bademänteln auf der Treppe. „Was ist denn so früh am Morgen hier los?“, wollte Mama wissen, die noch sehr verschlafen und zerzaust wirkte. Als sie sah, dass ihre jüngste Tochter weinte, rannte sie die Treppenstufen hinunter und sah – Josefine. „Nein, das ist ja unerhört. Wer war das?“ Ylvie übernahm das Reden, denn Lotte schluchzte schon wieder, sodass ihr keine Worte mehr über die Lippen wollten. „Zeig mal das Püppchen“, forderte Mama die Kleine auf und mit verweintem Gesicht und einer tropfenden Nase, mittlerweile doch wieder frierend reichte Lotte ihre beste Freundin der Mutter. „Wir bestellen dir eine andere Puppe beim Christkind, ja?“, meinte Mama und streichelte Lotte liebevoll über das Haar. Aber da fing Lotte noch lauter an zu weinen. Mama und Ylvie blickten das kleine Mädchen, das da traurig und verzweifelt im Flur stand, verständnislos und fragend an. „Das Christkind wird dich verstehen und dir sicher ganz schnell schon eine neue Josefine schicken. Sie wird bestimmt auch genau so wie diese hier aussehen. Wir müssen nur ein paar Tage abwarten, damit das Christkind das Püppchen besorgen kann.“ Es schien so, als hätte die Mutter etwas ganz Furchtbares gesagt, denn das Weinen von Lotte wurde nun zu einem lauten Jammern. „Lotte, sag doch etwas“, bat Ylvie, denn sie waren ratlos. Warum nur ließ sich Lotte nicht trösten?
Mama hob das weinende Kind auf den Arm, trug es ins gemütliche Wohnzimmer und setzte sich mit ihm auf die große, weiche Sofalandschaft, auf der alle Familienmitglieder sitzen konnten. Ylvie und Boss folgten.
Jetzt beruhige dich erst einmal und dann sagst du mir, was in deinem kleinen Kopf passiert. Ich kann es nämlich gar nicht verstehen.“ Nach einer Weile, die Tränen liefen zwar noch immer über Lottes Wangen, konnte das Mädchen wieder sprechen. „Mama, ich will keine andere Puppe. Das hier ist meine Josefine. Diese und keine andere. Es ist egal, wie sie im Moment aussieht. Ich habe sie so lieb, wie sie ist. Ich möchte ihr nur ein bisschen helfen. Vielleicht kann ich sie wieder parieren.“ Und damit meinte Lotte reparieren, doch dieses Wort konnte sie nicht so richtig aussprechen. Mama lächelte. „Wie klug du doch bist, kleine Lotte und wie recht du hast. Das hier ist deine Puppe, es stimmt. Wir sollten sie nicht einfach gegen eine neue eintauschen. Das wäre gemein von uns. Fine kann ja nichts dafür.“ In diesem Moment betrat Papa das Wohnzimmer und sah sich Josefine ganz genau an. Mama, Lotte und Ylvie blickten ihn fragend mit großen Augen an. Er nickte. „Ja, ja, ich glaube, ich kann Josefine wieder fit kriegen. Gib sie mir mal her.“ Schweren Herzens löste sich Lotte von ihrer verletzten Freundin und reichte sie ihrem Vater, der mit Fine das Wohnzimmer verließ. „Was haltet ihr denn davon, wenn wir den Frühstückstisch vorbereiten, während Papa als Puppendoktor arbeitet?“ Die Mädchen, die ja nun schon eine lange Zeit unterwegs gewesen waren und so allerhand Aufregung erlebt hatten, spürten auf einmal, dass sie großen Hunger hatten. Beim Decken des Tisches in der warmen Küche ging es Lotte schon viel besser und als sie den ersten Schluck ihres süßes Kakaos trank, spürte sie eine Behaglichkeit, obwohl Josefine so ramponiert war. Das Wichtigste für Lotte war, dass sie ihre Freundin wieder hatte. Es dauerte nicht lang, da brachte Papa die Patientin in die Küche, über die alle laut lachen mussten. Er hatte ihr ein paar gelbe Haare zwischen die roten Fransen geklebt, sie gesäubert, die zerrissenen Gliedmaßen genäht, das kaputte Kleidchen durch das neue blaue ersetzt und ihr auf die genähte Stelle im Gesicht ein buntes Pflaster geklebt. Lotte öffnete ihre Arme und nahm das Püppchen zu sich, streichelte es und war mehr als glücklich. „Ich finde, dass Fine noch viel schöner aussieht als gestern. Aber ich möchte noch etwas tun.“ Die Familie sah Lotte fragend an. „Ich möchte Boss auch etwas zum Kuscheln schenken, damit er sich nicht immer unsere Hausschuhe oder Puppen holen muss.“ Mama klatschte in die Hände. „Was für eine schöne Idee, Lotte. Gleich nach den Weihnachtsfeiertagen gehen wir einen kleinen Kuschelhund für Boss kaufen und Josefine und du, ihr dürft ihn aussuchen.“

Durch den Duft und den Lärm, der sich von der Küche aus im ganzen Haus ausgebreitet hatte, wurde nun auch der Langschläfer Emil geweckt, der mit Schlafanzug und verzottelten Haaren in die Küche schlurfte. Alle sahen ihn gespannt an und Lotte hielt Fine hoch. Emils Augen, die gerade noch klein und müde ausgesehen hatten, weiteten sich und sein Mund öffnete sich. „Oh, wie sieht denn Josefine aus. Ist sie in den Mixer gefallen?“ Alle lachten und dann erzählte Lotte ihrem großen Bruder die ganze Geschichte, von Anfang an.

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